Thea Mantwill

⊙ of moon, 2020

                                                  ◉ of moon

 Seltsamerweise musste ich nie an Venedig denken, wenn ich in Venedig war,
aber dafür in Palermo: schmale hallways im Dunkeln, schmutziges gelbes
Licht von den Straßenlaternen, die zufällig nicht kaputt sind, das auf abbrö-
ckelnde, beschmierte, verschmutzte und bezeichnete Wände fällt. Irgendwie
Dreck, aber poetischer Dreck. Farne. So ist der Innenhof, den man durch-
quert, ein Venedig, an das ich in Palermo denke, und das Treppenhaus dann
DDR. An der Wohnungstür zu klingeln hab ich nicht versucht – die Klingel
unten geht jedenfalls. Procedere, wenns klingelt: Alle Lampen aus, still sein,
wenn Licht von außen einfällt, auf den Boden legen. Warten. Das Außen glotzt
aus schlierigen, fast blinden Fenstern in die leeren Räume, das macht aber
nichts, weil das Außen abgewrackt schön ist und in seiner Rötlichkeit ein selt-
sam weiches Licht in den Innenhof und die Wohnung wirft. Man weiß nicht,
wer geklingelt hat, und auch nicht, wer durchs Treppenhaus läuft, laut atmend
an der schwächlichen Haustür vorbei.
 Die Räume sind seltsam, so geschnitten, dass man sich gerne permanent ent-
schuldigen möchte, weil man gleich wogegen läuft – höchstwahrscheinlich
gegen eine der zahlreichen Ecken. Leere Wohnungen erinnern mich immer
an Körper, an Haut, und daran, wie ich mich immer wundere, dass man die
Spuren von Berührungen, von Gewalt und Zärtlichkeit, nicht auf ihr sehen
kann wie auf einer Landkarte. Ich bin mir sicher, dass genau das, was Haut
versteckt, in leeren Zimmern in die Wände eingezogen ist. Es gibt das Ritual,
neue Räume auszuräuchern, um sie von allem, was darin in der Luft schwelt,
zu reinigen, aber ich kann mir schwer vorstellen, dass das, was da schwelt,
einfach verschwindet: ich denke, es geht in die Wände.
 Das Einzige, was ganz selbstbewusst hier noch steht, als hätt‘ es alles auf-
gekauft, ist diese Seife. Eine glänzend apricotfarbene Flüssigseife in altertüm-
lichem, gläsernen Seifenspender mit goldenem Druckkopf. Die Seife sagt mir,
so wie sie riecht (gut, aber vor-drei-Jahrzehnten-gut), dass hier zuletzt eine
Person lebte, die Wert auf eine umfassende Ästhetik und Eleganz unter Leug-
nung jeglicher Idiosynkrasien oder Ekelgefühle legte – obwohl Abstoßendes
auch Anziehung hervorrufen kann und obwohl ich mir sicher war, dass ein
so kantiger, spröder Ort nur für eine misanthropische Person gebaut werden
konnte, die nicht nur das Menschliche, sondern auch alles Menschengemachte
ablehnen musste. Als meine Oma gestorben war, haben wir drei Schwestern
je einen Gegenstand von ihr geerbt: ich ein goldenes Armband, meine ältere
Schwester einen Spiegel mit goldenem Rahmen, der eine Figur unter einem
Baum darstellte, die jüngere ein feines Brillenetui mit goldener Stickerei.
Natürlich verschwand der Spiegel innerhalb kürzester Zeit, wie alles, und
natürlich suchten wir es bei der kleptomanischen Jüngsten, die mit der Miene
und den Tränen einer Unschuldigen leugnete, bis man ihr den vermissten Ge-
genstand aus der Tasche zog. Den Spiegel nicht, der blieb verschwunden, bis
heute. Vielleicht hat er sich heimlich in diese Seife verwandelt.
 Und außerdem hat die Toilette einen billig blauen Deckel.
Das ist wichtig:
 Einmal stand an der Bahnhaltestelle eine Frau, um die ihre Neurosen förm-
lich herumwaberten wie eine aufdringliche Parfümwolke. Ich dachte mir noch,
so würd ich aber nicht rausgehen, auch nicht um halb neun morgens, als ich
ihre Socken sah: albern blau, ungemustert. Sie hatte sich einen Scherz erlaubt,
wahrscheinlich, um sich Mut zu machen.
 Im letzten Raum ein großer Ofen, der den Herd/Ofen in der aus-Versehen-
eine-Küche-gewordenen Küche im Grundriss vielleicht sogar spiegelt. Der
gekachelte Ofen ist das einzig Majestätische und das einzige Versprechen auf
Wärme in der ganzen Wohnung. Der Ofen in der Küche ein Sylvia-Plath-
Ofen. Die Spiegelung wiederholt sich in dem nutzlos doppelten Waschbecken
der Küche, und ich wüsste gerne, wenn ich Ostberlin an der Grenze spiegele,
welchen Ort ich auf der gegenüberliegenden Seite an dieser Stelle finde.
 Wer die Wohnung einmal durchquert, läuft von dunkel nach hell, von unbe-
leuchtet bis ins sakrale letzte Zimmer mit dem stillen Ofen, der einzige Raum,
der die Bezeichnung Zimmer verdient hat. Die ganze Wohnung ist ein Flur, der
vergessen hat, dass es keinen Grund gibt, sich in ihm aufzuhalten.
 Als wir Kinder waren, haben wir draußen immer Zeichen gesucht (und ge-
funden): ein Schwarm Vögel in V-Form, ein besonderer Stein, ein unerklär-
liches Licht im Himmel. Diese Zeichen waren ein Versprechen, oder sogar
eine Bestätigung unserer Wissens von einer nahenden, anderen, neuen Zeit.
 Keine Utopie – die hatten wir in den Wiesen und Seen und vertrockneten,
von grünen Algen überwachsenen Flussbetten unserer 90er-Jahre-Kindheit ja
schon – sondern eine Dystopie. Der Moment, in dem die Flut in die Häuser
bricht und man den höchsten Punkt erreicht, der Moment, in dem der Alb-
traum Spaß macht (oder Lust). Es gab eine bestimmte Anzahl an Zeichen, die
es zu finden galt, aber das letzte haben wir nie entdeckt.
 Ich weiß, dass es hier an diesem Ort ist, ich hab es nur noch nicht gesehen.